Beginnen wir mit einer Untertreibung: Der durchschnittliche Neapolitaner ist nicht besonders angetan von Juventus. Historisch gesehen ist die Rivalität zwischen Neapel und Juventus Turin auf das wirtschaftliche Gefälle zwischen Norditalien (Turin) und Süditalien (Neapel) zurückzuführen, aber seit die Mannschaft aus Neapel in den letzten Jahren um den Titel kämpft, hat die Rivalität auch auf dem Fußballplatz so richtig Einzug gehalten. Es hat die Nerven der Neapolitaner sicher nicht beruhigt, als Juventus im Jahr 2016 Napolis Starstürmer Gonzalo Higuaín kaufte und später den erfolgreichen Trainer Maurizio Sarri nach Turin lockte, wo dieser später seinen ersten nationalen Titel gewann.
Neapels letzter Scudetto datiert aus dem Jahr 1990. Viel Zeit, in der die Neapolitaner gelernt haben, das große Juventus zu fürchten. Doch an diesem Freitagabend könnte es genau andersherum laufen. Selten standen die Vorzeichen so gut für das Team aus Kampanien, Juventus wieder zu schlagen und ihrer ersten Meisterschaft seit über 30 Jahren näher zu kommen.
Der georgische Jongleur: Khvicha 'Kvaradona' Kvaratskhelia
Während Erzfeind Juventus Turin eher Stars anzieht, die von den prestigeträchtigsten Klubs der Welt eingekauft werden, ist Napoli daran gewöhnt, in etwas kleineren Teichen zu fischen - und holt Klublegenden wie Marek Hamsik (Rekordspieler) und Dries Mertens (Rekordtorschütze) aus der Serie B bzw. der Eredivisie.
Noch eine Kategorie kleiner ist wohl die georgische Erovnuli-Liga einzordnen. Beim dortigen Vizemeister Dinamo Batumi bediente man sich vor Beginn dieser Saison. Niemand hätte erwartet, dass ausgerechnet Khvicha Kvaratskhelia vor der WM-Pause zum meistdiskutierten Spieler der Serie A werden würde. Mit satten 16 Torbeteiligungen in seinen ersten 16 Spielen für die Partenopei in allen Wettbewerben (acht Tore, acht Vorlagen) zog Kvaratskhelia die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Fünf dieser Treffer erzielte er in der Champions League (zwei Tore, drei Vorlagen in 370 Minuten), was ihm bereits den Vergleich mit einem der ganz Großen aus Napolis Geschichte einbringt: Die Fans nennen ihren Flügelspieler bereits "Kvaradona"
In der Serie A ist Kvaratskhelia immer noch der Spieler mit den meisten Dribblings (85), Dribblings in der gegnerischen Hälfte (70) und Dribblings im gegnerischen Strafraum (12). Außerdem hat er die meisten Offensivaktionen aus dem Spiel heraus pro 90 Minuten (mindestens 990 Spielminuten) - und das, obwohl er wegen einer Rückenverletzung schon seit einigen Spielen nicht mehr im Einsatz ist. Die Neapolitaner, die 2023 noch kein Tor oder eine Vorlage erzielt haben, hoffen, dass "Kvaradona" ihnen helfen wird, die Juventus-Hintermannschaft zu überrumpeln.
Massimiliano Allegri: Pragmatismus bringt den Erfolg
Vor dem Duell mit dem Tabellenführer der Serie A steht Juventus Turin auf dem zweiten Platz und hat die mit Abstand beste Abwehr der Liga. Die Bianconeri haben nur sieben Gegentore kassiert, das sind sechs weniger als jede andere Mannschaft im italienischen Oberhaus. Damit gehört ihre Abwehr zu den besten in den Top 5 der europäischen Ligen. Die Mannschaft von Max Allegri reist mit einer beeindruckenden Empfehlung von acht Siegen in Folge nach Neapel - die längste Siegesserie seit Dezember 2018 (ebenfalls unter Allegri) - und, was noch erstaunlicher ist, acht weißen Westen in Folge. Juventus hat in den ersten 17 Spielen der laufenden Serie-A-Saison zwölf Spiele ohne Gegentreffer absolviert und damit den zweitbesten Start in eine Saison in der Geschichte des Wettbewerbs hingelegt (nach Cagliari mit 13 Spielen in der Saison 1966/67).
Nach einem wackeligen Start hat der pragmatische Trainer Max Allegri die Dinge zum Guten gewendet. In den letzten acht Spieltagen hat sich Juventus im Vergleich zu den ersten neun Partien der Saison in jeder Hinsicht verbessert: Es wurden mehr Tore erzielt, während die Mannschaft bei 0,7 erwarteten Gegentoren pro Spiel keinen einzigen Gegentreffer zuließ. Acht Siege in Folge in den letzten acht Spielen bedeuteten fast eine Verdoppelung der Punktzahl im Vergleich zu den ersten neun Spielen der Saison (24 zu 13).
Allegris defensiver Ansatz, selbst in Heimspielen gegen Abstiegskandidaten in dieser Saison tief zu stehen, führte in den letzten Monaten zu einem sehr starken Lauf, aber wie lange kann diese Serie noch anhalten? Die Alte Dame kassierte nur sieben Gegentore, verzeichnete aber einen Wert von 18,1 bei den erwarteten Gegentoren, was bedeutet, dass man etwa 11 Tore weniger kassierte, als man aufgrund der Qualität der gegnerischen Schüsse hätte prognostizieren können.
Die Differenz zwischen den tatsächlich kassierten Toren und den erwarteten Toren ist die größte positive Differenz in den Top 5 der europäischen Ligen. Eine weitere weiße Weste im Duell mit Napoli würde für die Bianconeri die längste Serie ohne Gegentor seit März 2018 (ebenfalls unter Allegri) bedeuten und könnte dem erfahrenen Coach seinem siebten Serie-A-Titel in Folge näher bringen. Nicht schlecht für einen so defensiv ausgerichteten Trainer.